EuGH Urteil vom 22.12.2010 – Rs. C-497/10

 

Zentrale Normen: Artikel 8 und 10 Brüssel IIa Verordnung

 

[Gewöhnlicher Aufenthalt bei geschäftsunfähigen Personen (Kind)]

 

Leitsatz (bearbeitet):

Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist für die Zwecke der Art. 8 und 10 der Brüssel IIa-Verordnung dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dabei sind, wenn es sich um einen Säugling handelt, der in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wurde und der sich dort mit seiner Mutter erst seit einigen Tagen befindet, u. a. zum einen die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Mutter in diesen Staat zu berücksichtigen und zum anderen, insbesondere wegen des Alters des Kindes, die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen.

 

Aus den Gründen:

 Zur ersten Frage

41      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ für die Zwecke der Art. 8 und 10 der Verordnung auszulegen ist, um zu klären, welches Gericht für die Entscheidung über Fragen des Sorgerechts insbesondere dann zuständig ist, wenn es sich – wie im Ausgangsverfahren – um den Fall eines Säuglings handelt, der von seiner Mutter rechtmäßig in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wird und sich dort zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts des Ausgangsstaats erst seit wenigen Tagen aufhält.

42      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung für ein Kind betreffen, das sich rechtmäßig in einen anderen Staat begibt, auf der Grundlage des Kriteriums des gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes zum Zeitpunkt der Antragstellung, d. h. der Anrufung des betreffenden Gerichts, zu ermitteln ist.

43      Nach Art. 16 der Verordnung gilt ein Gericht nur dann als angerufen, wenn bei ihm ein verfahrenseinleitendes Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück eingereicht wurde. Nach den Feststellungen in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils erfolgte die Anrufung des betreffenden Gerichts in der Person von Richter Holman, dem Duty High Court Judge, durch Herrn Chaffe am 9. Oktober 2009 lediglich telefonisch. Somit gilt der High Court of Justice (England & Wales) – vorbehaltlich, wie in Randnr. 26 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Prüfung durch das vorlegende Gericht, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an die Antragsgegnerin zu bewirken – erst am 12. Oktober 2009 als angerufen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Chloé, die am 8. Oktober 2009 auf der Insel La Réunion eintraf, seit vier Tagen in diesem französischen Departement.

44      Die Verordnung enthält keine Definition des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“. Aus der Verwendung des Adjektivs „gewöhnlich“ kann lediglich geschlossen werden, dass der Aufenthalt eine gewisse Beständigkeit oder Regelmäßigkeit haben muss.

45      Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. u. a. Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro, 327/82, Slg. 1984, 107, Randnr. 11, vom 6. März 2008, Nordania Finans und BG Factoring, C‑98/07, Slg. 2008, I‑1281, Randnr. 17, und vom 2. April 2009, A, C‑523/07, Slg. 2009, I‑2805, Randnr. 34).

46      Da die Artikel der Verordnung, in denen der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ vorkommt, für die Ermittlung des Sinns und der Bedeutung dieses Begriffs nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, ist hierfür auf den Kontext der Vorschriften der Verordnung und auf deren Ziel abzustellen, wie es namentlich aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht, wonach die in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden.

47      Um zu gewährleisten, dass das Wohl des Kindes bestmöglich beachtet wird, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass unter dem Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dieser Ort ist vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls festzustellen (vgl. Urteil A, Randnr. 44).

48      Zu den Kriterien, in deren Licht das nationale Gericht den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes festzustellen hat, gehören insbesondere die Umstände und Gründe des Aufenthalts des Kindes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sowie dessen Staatsangehörigkeit (vgl. Urteil A, Randnr. 44).

49      Wie der Gerichtshof überdies in Randnr. 38 des Urteils A ausgeführt hat, muss bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes neben seiner körperlichen Anwesenheit in einem Mitgliedstaat aus anderen Faktoren hervorgehen, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt.

50      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen wie dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Aufnahmemitgliedstaat manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein kann (vgl. Urteil A, Randnr. 40).

51      Insoweit ist zur Unterscheidung des gewöhnlichen Aufenthalts von einer bloßen vorübergehenden Anwesenheit festzustellen, dass der gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlich von gewisser Dauer sein muss, damit ihm ausreichende Beständigkeit innewohnt. Die Verordnung sieht allerdings keine Mindestdauer vor. Maßgebend für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmestaat ist nämlich vor allem der Wille des Betreffenden, dort den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen. Die Dauer eines Aufenthalts kann daher nur als Indiz im Rahmen der Beurteilung seiner Beständigkeit dienen, die im Licht aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist.

52      Im Ausgangsverfahren kann überdies dem Alter des Kindes besondere Bedeutung zukommen.

53      Das soziale und familiäre Umfeld des Kindes, das für die Bestimmung des Ortes seines gewöhnlichen Aufenthalts von wesentlicher Bedeutung ist, besteht nämlich aus je nach Alter des Kindes unterschiedlichen Faktoren. So sind im Fall eines Kindes im schulpflichtigen Alter andere Faktoren zu berücksichtigen als im Fall eines nicht mehr die Schule besuchenden Minderjährigen oder im Fall eines Säuglings.

54      Im Allgemeinen ist das Umfeld eines Kindes von geringem Alter weitgehend ein familiäres Umfeld, das durch die Bezugsperson oder ‑personen bestimmt wird, mit denen das Kind zusammenlebt, die das Kind tatsächlich betreuen und die für es sorgen.

55      Dies gilt erst recht, wenn das betreffende Kind ein Säugling ist. Dieser teilt zwangsläufig das soziale und familiäre Umfeld des Personenkreises, auf den er angewiesen ist. Wird, wie im Ausgangsverfahren, der Säugling tatsächlich von seiner Mutter betreut, ist folglich deren Integration in ihr soziales und familiäres Umfeld zu beurteilen. Dabei können die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien, etwa die Gründe für den Umzug der Kindesmutter in einen anderen Mitgliedstaat, ihre Sprachkenntnisse oder ihre geografische und familiäre Herkunft, eine Rolle spielen.

56      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ für die Zwecke der Art. 8 und 10 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dabei sind, wenn es sich um einen Säugling handelt, der in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wurde und der sich dort mit seiner Mutter erst seit einigen Tagen befindet, u. a. zum einen die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Mutter in diesen Staat zu berücksichtigen und zum anderen, insbesondere wegen des Alters des Kindes, die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen.

57      Falls die Anwendung der oben genannten Kriterien im Ausgangsverfahren zu dem Ergebnis führen sollte, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden kann, muss das zuständige Gericht anhand des Kriteriums der „Anwesenheit des Kindes“ im Sinne von Art. 13 der Verordnung bestimmt werden.

 Zur zweiten Frage

58      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff der Behörde oder sonstigen Stelle, der für die Zwecke der Bestimmungen der Verordnung ein Sorgerecht zugewiesen werden kann, dahin auszulegen ist, dass darunter auch ein „Gericht“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Verordnung fällt.

59      Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht weder angegeben hat, im Rahmen welcher Bestimmungen der Verordnung es um eine Auslegung dieses Begriffs ersucht, noch erläutert hat, aus welchen Gründen es dieser Auslegung für den Erlass seines Urteils bedarf. Der genannte Begriff wird in den Art. 10 und 11 der Verordnung verwendet. Diese Bestimmungen betreffen die Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung und sind deshalb bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes anzuwenden, während Art. 9 der Verordnung den rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen betrifft.

60      Wie in Randnr. 23 des vorliegenden Urteils festgestellt, war die Verbringung von Chloé auf die Insel La Réunion unstreitig rechtmäßig.

61      Daraus folgt, dass Art. 10 der Verordnung nicht zur Anwendung kommen kann. Daher ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Zur dritten Frage

62      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht, wie sich insbesondere aus den Abschnitten 1.4 und 4.6 der Vorlageentscheidung ergibt, wissen, ob die Entscheidungen eines Gerichts eines Mitgliedstaats, mit denen ein Antrag auf sofortige Rückführung eines Kindes in den Zuständigkeitsbereich eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats nach dem Haager Übereinkommen von 1980 abgelehnt wird und die die elterliche Verantwortung für dieses Kind betreffen, Auswirkungen auf die Entscheidungen haben, die in dem anderen Mitgliedstaat in zuvor eingeleiteten und dort noch anhängigen Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung zu treffen sind.

 Das Urteil des Tribunal de grande instance de Saint-Denis vom 15. März 2010

63      Wie in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, beruhte der vom Vater von Chloé beim Tribunal de grande instance de Saint-Denis gestellte Antrag auf den Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980. Dieses Übereinkommen soll nach seinem Art. 1 die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherstellen.

64      Das Tribunal de grande instance de Saint-Denis lehnte den Antrag des Vaters von Chloé auf deren Rückführung in das Vereinigte Königreich ab, „da nicht erwiesen [war], dass Herr Richard Chaffe zum Zeitpunkt des Verbringens der jungen Chloé Mercredi über ein Sorgerecht verfügte, das tatsächlich ausgeübt wurde oder ohne das Verbringen ausgeübt worden wäre“.

65      Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 19 des Haager Übereinkommens von 1980 das Urteil des Tribunal de grande instance vom 15. März 2010 nicht als Entscheidung über das Sorgerecht anzusehen ist, wobei es keine Rolle spielt, dass dieses Urteil, wie in Randnr. 28 des vorliegenden Urteils festgestellt, rechtskräftig geworden ist.

66      Folglich hätte das Urteil des Tribunal de grande instance de Saint-Denis vom 15. März 2010 für den Fall, dass das vorlegende Gericht in Anwendung der in der Antwort auf die erste Frage genannten Kriterien seine Zuständigkeit nach Art. 8 der Verordnung für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung für Chloé betreffen, bejahen sollte, keine Auswirkungen auf die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung.

 Das Urteil des Tribunal de grande instance de Saint-Denis vom 23. Juni 2010

67      Zum Urteil des Tribunal de grande instance de Saint-Denis vom 23. Juni 2010, das – wie Randnr. 29 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist – noch nicht rechtskräftig ist, ist zunächst festzustellen, dass das vorlegende Gericht gegebenenfalls mit der Tatsache konfrontiert sein wird, dass das Tribunal de grande instance sein Urteil nicht auf das Haager Übereinkommen von 1980, sondern auch auf die Verordnung gestützt hat.

68      In einem solchen Fall des Konflikts zwischen zwei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten, bei denen auf der Grundlage der Verordnung Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht wurden, kommt Art. 19 Abs. 2 der Verordnung zur Anwendung. Nach dieser Vorschrift setzt das später angerufene Gericht das Verfahren aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.

69      Da der High Court of Justice (England & Wales) am 12. Oktober 2009 vom Vater des Kindes in einem Verfahren angerufen wurde, das u. a. darauf gerichtet war, ihm die elterliche Verantwortung zu übertragen, durfte das von der Mutter des Kindes am 28. Oktober 2009 angerufene Tribunal de grande instance de Saint-Denis nicht über deren Antrag entscheiden.

70      Aus dem Vorstehenden folgt, dass für den Fall, dass das vorlegende Gericht in Anwendung der in der Antwort auf die erste Frage genannten Kriterien seine Zuständigkeit nach Art. 8 der Verordnung für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung für Chloé betreffen, bejahen sollte, weder das Urteil des Tribunal de grande instance de Saint-Denis vom 15. März 2010 noch dessen Urteil vom 23. Juni 2010 Auswirkungen auf die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung hätte.

71      Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Entscheidungen eines Gerichts eines Mitgliedstaats, mit denen ein Antrag auf sofortige Rückführung eines Kindes in den Zuständigkeitsbereich eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats nach dem Haager Übereinkommen von 1980 abgelehnt wird und die die elterliche Verantwortung für dieses Kind betreffen, keine Auswirkungen auf die Entscheidungen haben, die in dem anderen Mitgliedstaat in zuvor eingeleiteten und dort noch anhängigen Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung zu treffen sind.