EuGH, Urt. v. 2.6.2022 – C -617/20 (Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer vor dem Gericht eines Mitgliedstaats erklärten Erbausschlagung)
Zentrale Normen: EuErbVO Art. 13, 28
Die Art. 13 und 28 EuErbVO sind dahin auszulegen, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.
Sachverhalt:
Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines von TN und NN eingeleiteten Verfahrens, das einen Antrag auf Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins über den Nachlass von ... (= Erblasser – E), des Ehemanns von EG und Onkels von TN und NN (= Neffen des E), betrifft.
Anm. der Red.: Es folgt eine Wiedergabe der Erwägungsgründe (ErwG) 7, 32 und 67 EuErbVO, von Art. 4, 13, 21, 23 und 28 EuErbVO sowie der §§ 1942–1945 BGB.
E, ein niederländischer Staatsangehöriger, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, verstarb am 21.5.2018 in Bremen. Am 21.1.2019 beantragte EG, die ihren Wohnsitz in Deutschland hat, beim AG Bremen als dem für die Entscheidung über den Nachlass des E zuständigen Gericht die Erteilung eines Erbscheins, ausweislich dessen sie in gesetzlicher Erbfolge 3/4 des Nachlasses des E geerbt habe und die Neffen des E, die beide in den Niederlanden wohnten, jeweils 1/8 dieses Nachlasses geerbt hätten.
Am 19.6.2019 informierte das AG die Neffen des E über das Nachlassverfahren aufgrund gesetzlicher Erbfolge und bat sie um Übermittlung bestimmter Urkunden zur Abwicklung des Nachlasses. Am 13.9.2019 gaben die Neffen bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft ab, die am 30.9.2019 in das dortige Nachlassregister eingetragen wurde. Am 22.11.2019 übermittelte das AG Bremen den Neffen den Erbscheinsantrag und forderte sie zur Stellungnahme auf.
Mit einem in niederländischer Sprache abgefassten Schreiben vom 13.12.2019 reichten diese beim AG Kopien der Urkunden ein, die von der Rechtbank Den Haag im Nachgang zu ihren Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft erstellt worden waren. Am 3.1.2020 teilte das AG den Neffen mit, dass ihr Schreiben einschließlich der übermittelten Urkunden mangels einer Übersetzung ins Deutsche nicht habe berücksichtigt werden können.
Mit in deutscher Sprache abgefasstem Schreiben vom 15.1.2020 teilte NN dem AG mit, dass sein Bruder und er die Erbschaft ausgeschlagen hätten, dass die entsprechende Erklärung im Einklang mit dem Unionsrecht von den zuständigen Justizbehörden in niederländischer Sprache registriert worden sei und dass daher keine Übersetzung der betreffenden Urkunden ins Deutsche erforderlich sei. Als Antwort hierauf entgegnete das vorlegende Gericht, dass es notwendig sei, die in Rede stehenden einschlägigen Urkunden zu übersetzen und die für die Ausschlagung der Erbschaft gesetzten Fristen einzuhalten.
Am 27.2.2020 stellte das AG die Tatsachen fest, die zur Erteilung des dem Antrag von EG entsprechenden Erbscheins notwendig waren, und befand, dass die Erbschaft als von den Neffen des E angenommen gelte.
Die Neffen fochten diesen Beschluss an und beantragten eine Fristverlängerung, um weitere Nachweise vorzulegen. Am 30.7.2020 übermittelten sie dem AG Farbkopien der von der Rechtbank Den Haag ausgestellten Urkunden sowie deren Übersetzung ins Deutsche. Nachdem das AG den Neffen gegenüber beanstandet hatte, dass die Originale dieser Urkunden nicht übermittelt worden seien, gingen die Originale am 17.8.2020 bei ihm ein.
Mit Beschluss vom 2.9.2020 half das AG der Beschwerde nicht ab und legte das Verfahren dem vorlegenden Gericht, dem OLG Bremen, zur Entscheidung vor; dabei stellte das AG fest, dass davon auszugehen sei, dass die Neffen die Erbschaft angenommen hätten, da sie die Erbschaft nach E nicht fristgerecht ausgeschlagen hätten.
Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen eine Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft, die nach dem auf den Erbfall anwendbaren Recht binnen einer bestimmten Frist bei dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht abzugeben ist, als rechtzeitig abgegeben gilt, wenn der Erbe gem. Art. 13 und 28 EuErbVO die Ausschlagung der Erbschaft bei dem zuständigen Gericht des Ortes seines gewöhnlichen Aufenthalts erklärt.
In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es in Deutschland unterschiedliche Ansichten in Schrifttum und Rechtsprechung zur Wirksamkeit der Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft gebe, wenn diese Erklärung bei einem anderen mitgliedstaatlichen Gericht als demjenigen abgegeben werde, das grds. für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig sei. Nach wohl hM in Schrifttum und Rechtsprechung soll bereits die Abgabe der Ausschlagungserklärung vor dem Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Erben zur Wirksamkeit der Ausschlagung am Gericht des Erbfalles führen. Nach anderer Auffassung sei die Erklärung über die Erbausschlagung erst wirksam, wenn sie formgerecht an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht weitergeleitet werde oder diesem jedenfalls zur Kenntnis gebracht werde.
Folgte man der in Rn. 26 des vorliegenden Urteilswiedergegebenen Auffassung, gälte im Ausgangsverfahren die in Rede stehende Erklärung über die Erbausschlagung als an dem Tag wirksam geworden, an dem sie von den Neffen des E bei der Rechtbank Den Haag abgegeben wurde, dh am 13.9.2019. Mithin hätten in diesem Fall die Neffen die Sechsmonatsfrist des § 1944 Abs. 3 BGB zur Erbausschlagung gewahrt, deren Lauf mit der Kenntniserlangung des Erben von dem Anfall der Erbschaft beginne.
Nach der anderen, in Rn. 27 des vorliegenden Urteilsdargestellten Meinung könnte es für die Wirksamkeit der in Rede stehenden Erklärung über die Erbausschlagung auf denjenigen Zeitpunkt ankommen, zu dem das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht von dieser Erklärung Kenntnis erlangt habe. Es stelle sich jedoch die Frage, welchen formalen Voraussetzungen die Wirksamkeit einer solchen Erklärung unterliege.
Unter diesen Umständen hat das OLG Bremen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
- Ersetzt die Ausschlagungserklärung eines Erben, der diese an dem für seinen gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht eines Mitgliedstaats nach den dort geltenden Formerfordernissen abgibt, die an dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, abzugebende Ausschlagungserklärung in der Weise, dass sie als zum Zeitpunkt der Erklärungsabgabe als wirksam abgegeben gilt (Substitution)?
- Für den Fall, dass die erste Frage zu verneinen ist: Ist neben der formwirksamen Erklärung gegenüber dem für den gewöhnlichen Aufenthalt zuständigen Gericht des Ausschlagenden für das Wirksamwerden seiner Ausschlagungserklärung erforderlich, dass dieser das Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, über die Abgabe der Erklärung in Kenntnis setzt?
- Für den Fall, dass die erste Frage zu verneinen und die zweite Frage zu bejahen ist:
a) Ist es für ein Wirksamwerden der Ausschlagungserklärung, insbesondere für die Einhaltung der an seinem Ort geltenden Fristen für die Abgabe dieser Erklärung erforderlich, dass das Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, in der an seinem Gerichtsort geltenden Sprache angesprochen wird?
b) Ist es für ein Wirksamwerden der Ausschlagungserklärung, insbesondere für die Einhaltung der an seinem Ort geltenden Fristen für die Abgabe dieser Erklärung, erforderlich, dass dem Gericht, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig ist, die von dem Gericht, welches für den gewöhnlichen Aufenthalt des Ausschlagenden zuständig ist, die über die Ausschlagung ausgestellten Urkunden im Original mit einer Übersetzung übergeben werden müssen?
Gründe:
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
31 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen ggf. umzuformulieren (EuGH v. 26.10.2021 – C-109/20, PL Holdings, ECLI:EU:C:2021:875, BeckRS 2021, 31827 Rn. 34 und die dort angeführte Rspr.).
32 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erklärung über die Ausschlagung einer Erbschaft iSd Art. 13 und 28 EuErbVO, die der ausschlagende Erbe vor dem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgibt, als wirksam erfolgt gilt. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob und ggf. wann und wie eine solche Erklärung dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht zur Kenntnis zu bringen ist.
33 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Neffen des E am 13.9.2019 vor einem Gericht des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts, nämlich der Rechtbank Den Haag, erklärt haben, dass sie die Erbschaft nach E ausschlagen. Am 13.12.2019 haben sie das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige deutsche Gericht mit einem auf Niederländisch abgefassten Schreiben darüber informiert, dass diese Erklärung abgegeben worden sei, und Kopien der vom niederländischen Gericht erstellten Urkunden beigefügt. Am 15.1.2020 haben sie das deutsche Gericht mit einem nunmehr auf Deutsch abgefassten Schreiben erneut über die Existenz der Erklärung informiert. Die deutsche Übersetzung und die Originale der vom niederländischen Gericht erstellten Urkunden sind dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge allerdings erst am 17.8.2020 beim deutschen Gericht eingegangen, mithin nach Ablauf der Frist, die das anwendbare Erbstatut vorsieht.
34 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 13 und 28 EuErbVO dahin auszulegen sind, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als bzgl. ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, idR in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung nicht nur ihres Wortlauts, sondern auch des Kontexts der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (EuGH v. 1.3.2018 – C-558/16, Mahnkopf, ECLI:EU:C:2018:138, ZEV 2018, 205mAnm Bandel, Rn. 32; v. 9.9.2021 – C-277/20, UM, ECLI:EU:C:2021:708, ZEV 2021, 717 mAnm J.-P. Schmidt, Rn. 29).
Auslegung der Art. 13 und 28 EuErbVO ...
36 Was erstens den Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen und ihren Kontext betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass Art. 13 EuErbVO zu deren Kap. II gehört, das sämtliche Gerichtsstände in Erbsachen regelt. Nach dieser Bestimmung sind – außer dem gemäß dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht – die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung der betreffenden Person für die Nachlassverbindlichkeiten abgeben kann, für die Entgegennahme solcher Erklärungen zuständig.
37 Art. 13 EuErbVO sieht somit einen alternativen Gerichtsstand vor, der es Erben, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in dem Mitgliedstaat haben, dessen Gerichte gemäß den allgemeinen Regeln der Art. 4–11EuErbVO für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständig sind, ermöglichen soll, ihre Erklärungen über die Annahme oder die Ausschlagung der Erbschaft vor einem Gericht des Mitgliedstaats abzugeben, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
38 Diese Regel über die gerichtliche Zuständigkeit wird durch eine Kollisionsnorm in Art. 28 EuErbVO ergänzt, der zu Kap. III dieser Verordnung über das anzuwendende Recht gehört und speziell die Formgültigkeit solcher Erklärungen regelt. Nach diesem Artikel sind diese Erklärungen bzgl. ihrer Form wirksam, wenn sie den Erfordernissen des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Rechts (lex successionis) (Art. 28 Buchst. a)oder den Erfordernissen des Rechts des Staates entsprechen, in dem der Erklärende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 28 Buchst. b).
39 Dem Wortlaut von Art. 28 EuErbVO lässt sich entnehmen, dass diese Bestimmung so konzipiert ist, dass sie eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als wirksam anerkennt, wenn entweder die Voraussetzungen erfüllt sind, die das Erbrecht, wenn es anwendbar ist, aufstellt, oder die Voraussetzungen erfüllt sind, die das Recht des Staates vorsieht, in dem der ausschlagende Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn dieses Recht anwendbar ist.
40 Insoweit ergibt sich aus Art. 13 iVm Art. 28 EuErbVO, dass zwischen diesen beiden Bestimmungen ein enger Zusammenhang besteht, so dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, für die Entgegennahme von Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft von der Voraussetzung abhängt, dass das in diesem Staat geltende Erbrecht die Möglichkeit der Abgabe einer solchen Erklärung vor einem Gericht vorsieht. Ist diese Voraussetzung erfüllt, bestimmen sich alle Handlungen, die vor einem Gericht des Mitgliedstaats vorzunehmen sind, in dem der Erbe, der eine solche Erklärung abgeben möchte, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, nach dem Recht dieses Mitgliedstaats.
... sowie von ErwG 32 EuErbVO
41 Was zweitens die mit EuErbVO verfolgten Ziele betrifft, so wird dieses Verständnis der Art. 13 und 28 EuErbVOdurch deren ErwG 32 bestätigt, wonach diese Bestimmungen „(dem Interesse) der Erben und Vermächtnisnehmer (Rechnung tragen sollen), die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen als dem Mitgliedstaat haben, in dem der Nachlass abgewickelt wird oder werden soll“. Hierzu sollte es diese Verordnung nach ErwG 32 jeder Person, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht dazu berechtigt ist, ermöglichen, bestimmte Erklärungen bzgl. der Erbschaft, darunter auch deren Ausschlagung, vor den Gerichten des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts in der Form abzugeben, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehen ist. Insoweit hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass Art. 13 EuErbVO iVm ErwG 32 auf die Vereinfachung der Amtswege der Erben und Vermächtnisnehmer abzielt, indem von den Zuständigkeitsregeln der Art. 4–11 EuErbVO abgewichen wird (EuGH v. 21.6.2018 – C-20/17, Oberle, ECLI:EU:C:2018:485, ZEV 2018, 465 mAnm Zimmermann, Rn. 42).
42 Diese Auslegung wird darüber hinaus dadurch bestätigt, dass die EuErbVO gem. ErwG 7 die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen bei der Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug ausräumen soll, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. Insbesondere müssen im europäischen Rechtsraum die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger effektiv gewahrt werden (idS EuGH ZEV 2018, 205 Rn. 35; v. 1.7.2021 – C-301/20, Vorarlberger Landes- und Hypotheken-Bank, ECLI:EU:C:2021:528, ZEV 2021, 581mAnm Zander, Rn. 27 u. 34).
43 So garantiert Art. 28 Buchst. b EuErbVO in Bezug auf Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft vor dem nach Art. 13 EuErbVO zuständigen Gericht die Effektivität dieser Möglichkeit, die dem Erben zusteht, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gerichts hat.
44 Hierzu ist festzustellen, dass im Hinblick auf die begrenzte Tragweite der Zuständigkeit des in Art. 13 EuErbVO genannten Gerichts jede andere Auslegung – die darauf hinausliefe, die Formgültigkeit einer Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft namentlich dadurch Einschränkungen zu unterwerfen, dass sie den Formerfordernissen des Rechts unterläge, das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbar ist – zur Folge hätte, den Bestimmungen der Art. 13 und 28Buchst. b EuErbVO jegliche praktische Wirksamkeit zu nehmen und somit die Ziele dieser Verordnung zu beeinträchtigen und gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen.
45 Folglich setzt die Wahrung des Ziels der EuErbVO, das darin besteht, den Erben die Möglichkeit zu eröffnen, Erklärungen über die Ausschlagung der Erbschaft im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, voraus, dass diese Erben, damit ihre Erklärungen als wirksam erachtet werden, vor Gerichten anderer Mitgliedstaaten keinen weiteren Förmlichkeiten genügen müssen als denjenigen, die nach dem Recht des Mitgliedstaats vorgeschrieben sind, in dem die Erklärung abgegeben wird.
Anforderungen an die Übermittlung einer Ausschlagungserklärung
46 Zur Frage der Übermittlung dieser Erklärungen an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht ist zu bemerken, dass ausweislich des letzten Satzes des ErwG 32 „(d)ie Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch machen möchten, Erklärungen im Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, … das Gericht oder die Behörde, die mit der Erbsache befasst ist oder sein wird, innerhalb einer Frist, die in dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht vorgesehen ist, selbst davon in Kenntnis setzen sollten, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden“.
47 Diesem letzten Satzes des ErwG 32 lässt sich auf den ersten Blick entnehmen, dass es der Unionsgesetzgeber für erforderlich hält, dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft zur Kenntnis zu bringen, die vor einem Gericht des Mitgliedstaats abgegeben wird, in dem der ausschlagende Erbe seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Es ist indessen festzustellen, dass weder Art. 13 noch Art. 28 EuErbVO einen Mechanismus vorsehen, nach dem solche Erklärungen durch das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des ausschlagenden Erben an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht zu übermitteln wären. ErwG 32 geht jedoch davon aus, dass denjenigen Personen, die von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, solche Erklärungen in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts abzugeben, die Aufgabe anheimfällt, die Behörden, die mit der Erbsache befasst sind, davon in Kenntnis zu setzen, dass derartige Erklärungen abgegeben wurden.
48 Da es im Unionsrecht kein einheitliches System gibt, das die Übermittlung der die Erbschaft betreffenden Erklärungen an das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht vorsieht, ist der letzte Satz des ErwG 32 dahin zu verstehen, dass es derjenigen Person, die eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft abgegeben hat, obliegt, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, damit das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständige Gericht davon Kenntnis erlangt, dass eine wirksame Erklärung abgegeben wurde. Werden diese Schritte nicht innerhalb der Frist unternommen, die das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht vorsieht, kann dessen ungeachtet die Wirksamkeit einer solchen Erklärung nicht in Frage gestellt werden.
49 Daher sollte die Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft, die von einem Erben vor dem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts unter Einhaltung der vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse abgegeben wurde, ohne dass eine solche Erklärung zusätzlichen Formerfordernissen des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts unterworfen wird, Rechtswirkungen vor dem für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht zeitigen, sofern das letztgenannte Gericht davon Kenntnis erlangt hat, dass diese Erklärung abgegeben wurde.
50 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die Neffen des E vor einem niederländischen Gericht unter Einhaltung der vor diesem geltenden Formerfordernisse eine Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft nach E abgegeben haben und dass das AG Bremen vor seiner Entscheidung über die Rechtsfolge von Todes wegen davon Kenntnis erlangt hat, dass diese Erklärung abgegeben worden war. Hieraus ist ersichtlich, dass das AG diese Erklärung unabhängig davon hätte berücksichtigen müssen, ob den weiteren Anforderungen oder den Klarstellungen entsprochen wurde, die vom deutschen Gericht für erforderlich gehalten wurden, um eine solche Erklärung für wirksam zu erachten. Wie nämlich aus ErwG 67 hervorgeht, setzt „(e)ine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Union … voraus“, dass die Erben in der Lage sein sollten, ihren Status und/oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat einfach nachzuweisen.
51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 13 und 28 EuErbVO dahin auszulegen sind, dass eine von einem Erben vor einem Gericht des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts abgegebene Erklärung über die Ausschlagung der Erbschaft als hinsichtlich ihrer Form wirksam gilt, wenn die vor diesem Gericht geltenden Formerfordernisse eingehalten worden sind, ohne dass es für diese Wirksamkeit erforderlich wäre, dass sie die Formerfordernisse erfüllt, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht beachtet werden müssen.