EuGH , Urteil vom 16.07.2020 – C-80/19

 

Zentrale Normen: Art. 3 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1 lit. g und i, Art. 5, 7 und 22 EuErbVO

 

(Gewöhnlicher Aufenthalt, Europäisches Nachlasszeugnis)

 

Leitsatze des Verfassers (Originale gekürzt):

1. Ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ liegt vor, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat - in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben - nicht abgebrochen hatte.

 

2. Handeln Notare eines Mitgliedsstaates als "Gerichte" im Sinne der Verordnung, können von ihnen ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden.

 

3. Notare, die keine "Gerichte" im Sinne der Verordnung sind, können - ungeachtet der Bestimmungen in Art. 4 ff. EuErbVO - nationale Nachlasszeugnisse ausstellen, die unter Umständen als "öffentliche Urkunden" anzusehen sind und die ihnen vorgesehenen Wirkungen entfalten.

 

 

Aus den Gründen:

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur fünften Frage

33 Mit seiner ersten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hatte und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat nicht abgebrochen hatte, und ob in diesem Fall der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung in einem einzigen Mitgliedstaat liegen muss.

34 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 650/2012 auf der Grundlage von Art. 81 Abs. 2 AEUV erlassen wurde, der nur Zivilsachen mit grenzüberschreitendem Bezug betrifft.

35 Das Ziel dieser Verordnung besteht ihren Erwägungsgründen 1 und 7 zufolge u. a. darin, die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug Schwierigkeiten bereitet, auszuräumen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. Die Verordnung zielt ausweislich ihres 67. Erwägungsgrundes auf eine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug ab.

36 Um festzustellen, ob eine Erbsache einen grenzüberschreitenden Bezug hat und daher in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 650/2012 fällt, ist - wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat - erstens der Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes zu ermitteln und zweitens zu bestimmen, ob der gewöhnliche Aufenthalt aufgrund dessen, dass sich ein anderer erbrechtlicher Anknüpfungspunkt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der Erblasser zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, befindet, in einem anderen Mitgliedstaat verortet werden kann.

3 7Hierzu ist festzustellen, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes“ im Sinne der Verordnung Nr. 650/2012 zwar in keiner Bestimmung definiert wird, jedoch die Erwägungsgründe 23 und 24 nützliche Hinweise enthalten.

38 Nach dem 23. Erwägungsgrund dieser Verordnung obliegt es der mit der Erbsache befassten Behörde, den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers zu bestimmen, wobei diese Behörde sowohl den Umstand, dass der allgemeine Anknüpfungspunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes ist, als auch sämtliche Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes zu beachten hat und dabei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen hat, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte eine besonders enge und feste Verbindung zwischen dem Nachlass und dem betreffenden Staat erkennen lassen.

39 Insoweit sind im 24. Erwägungsgrund der Verordnung verschiedene Fälle aufgeführt, in denen es sich als komplex erweisen kann, den gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen. War der Erblasser ein Staatsangehöriger eines Staates oder hatte er alle seine wesentlichen Vermögensgegenstände in diesem Staat, so könnte - wie es im letzten Satz dieses Erwägungsgrundes heißt - seine Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem diese Vermögensgegenstände sich befinden, ein besonderer Faktor bei der Gesamtbeurteilung aller tatsächlichen Umstände sein, wenn sich der Erblasser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen - unter Umständen auch für längere Zeit - in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechterhalten hat.

40 Daraus folgt, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers von der mit der Erbsache befassten Behörde anhand einer Gesamtbeurteilung der Umstände des Einzelfalls in einem einzigen Mitgliedstaat festzulegen ist.

41 Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat und wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, würde eine Auslegung der Verordnung Nr. 650/2012, wonach der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes in mehreren Mitgliedstaaten festgelegt werden könnte, zu einer Nachlassspaltung führen, da der gewöhnliche Aufenthalt das Kriterium für die Anwendung der allgemeinen Vorschriften der Art. 4 und 21 dieser Verordnung darstellt, nach denen sich sowohl die Zuständigkeit der Gerichte für den gesamten Nachlass als auch das nach der Verordnung auf den gesamten Nachlass anwendbare Recht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt richten. Eine solche Auslegung wäre daher mit den Zielen dieser Verordnung unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Oktober 2017, Kubicka, C- 218/16, ECLI:EU:C:2017:755, Rn. 57, und vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 53 bis 55).

42 Darüber hinaus ist zu prüfen, ob der Nachlass einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, weil sich ein anderer erbrechtlicher Anknüpfungspunkt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der Erblasser zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, befindet.

43 Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Erbfall grenzüberschreitenden Bezug hat, wenn der Nachlass Vermögen umfasst, das in verschiedenen Mitgliedstaaten - und insbesondere in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der Erblasser zuletzt seinen Aufenthalt hatte - belegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 32). Außerdem sind in der Verordnung Nr. 650/2012 beispielhaft andere Umstände angeführt, die auf das Vorliegen eines Nachlasses unter Beteiligung mehrerer Mitgliedstaaten hindeuten können.

44 Wie auch der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann ein Bündel übereinstimmender Indizien wie die in den Erwägungsgründen 23 und 24 der Verordnung Nr. 650/2012 erwähnten und insbesondere die in den Rn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils genannten - vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen - zu dem Schluss führen, dass eine Erbsache wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, weil sie einen grenzüberschreitenden Bezug hat, in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 650/2012 fällt.

45 Nach alledem ist auf die erste und die fünfte Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat - in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben - nicht abgebrochen hatte. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung ist von der mit der Erbsache befassten Behörde in nur einem dieser Mitgliedstaaten festzulegen.

 

Zur zweiten Frage

46 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung angesehen werden können.

47Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 fallen nicht gerichtliche Behörden und Angehörige von Rechtsberufen mit Zuständigkeiten in Erbsachen unter den Begriff „Gericht“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn sie gerichtliche Funktionen ausüben oder in Ausübung einer Befugnisübertragung durch ein Gericht oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln, sofern sie ihre Unparteilichkeit und das Recht der Parteien auf rechtliches Gehör gewährleisten und ihre Entscheidungen nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sie tätig sind, vor einem Gericht angefochten oder von einem Gericht nachgeprüft werden können und vergleichbare Rechtskraft und Rechtswirkung haben wie eine Entscheidung eines Gerichts in der gleichen Sache.

48 Außerdem geht aus dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 hervor, dass der Begriff „Gericht“ im Rahmen dieser Verordnung weit zu verstehen ist und auch Notare umfasst, wenn sie in bestimmten Erbsachen gerichtliche Funktionen ausüben.

49 Im Übrigen ist es für die Einstufung der Notare als „Gericht“ nicht entscheidend, dass von einem Mitgliedstaat nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 mitgeteilt worden ist, dass die Notare gerichtliche Funktionen ausüben (Urteil vom 23. Mai 2019, WB, C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444, Rn. 64).

50 Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 klargestellt wird, dass der Begriff „Gericht“ im Sinne dieser Verordnung nicht nur Gerichte, sondern auch alle sonstigen Behörden und alle sonstigen Angehörigen von Rechtsberufen mit Zuständigkeiten in Erbsachen einschließt, die gerichtliche Funktionen ausüben und die in dieser Bestimmung genannten Anforderungen erfüllen (Urteil vom 23. Mai 2019, WB, C- 658/17, ECLI:EU:C:2019:444, Rn. 40).

51 Hierzu hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass eine Behörde gerichtliche Funktionen ausübt, wenn sie in erbrechtlichen Streitigkeiten zuständig sein kann. Dieses Kriterium gilt unabhängig davon, ob das Verfahren zur Ausstellung eines Nachlasszeugnisses streitig oder nicht streitig ist (Urteil vom 23. Mai 2019, WB, C-658/17, ECLI:EU:C:2019:444, Rn. 56).

52 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass den litauischen Notaren nach Art. 1 des Gesetzes über das Notariat das Recht verliehen wird, die unstreitigen subjektiven Rechte festzustellen.

53 Daraus ergibt sich wohl - wie der Generalanwalt in Nr. 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat -, dass ein litauischer Notar für die Entscheidung über die zwischen den Parteien streitigen Punkte nicht zuständig ist und dass er weder befugt ist, tatsächliche Umstände festzustellen, die nicht klar und eindeutig sind, noch über streitige Tatsachen zu entscheiden.

54 Somit ist davon auszugehen, dass - vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht - die Ausstellung eines nationalen Nachlasszeugnisses durch die litauischen Notare nicht mit der Ausübung gerichtlicher Funktionen einhergeht.

55 Allerdings kann sich nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 die Eigenschaft eines „Gerichts“ im Sinne dieser Bestimmung auch daraus ergeben, dass die genannten Behörden und Berufsangehörigen in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies der Fall ist, wenn litauische Notare ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen.

56 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass die litauischen Notare - vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht - keine gerichtlichen Funktionen ausüben, wenn sie ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Notare in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln und folglich als „Gerichte“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können.

 

Zur dritten Frage

57 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass es die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne der Verordnung Nr. 650/2012 ansehen sollte, wissen, ob von litauischen Notaren ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 650/2012 angesehen werden können und ob die Notare für die Ausstellung der Nachlasszeugnisse die Zuständigkeitsregeln des Kapitels II dieser Verordnung anwenden können.

58 Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 650/2012 bezeichnet der Ausdruck „Entscheidung“ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats in einer Erbsache erlassene Entscheidung ungeachtet ihrer Bezeichnung.

59 Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass die einzige in dieser Verordnung vorgesehene Voraussetzung für die Einstufung einer Handlung als „Entscheidung“ darin besteht, dass sie von einem „Gericht“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung erlassen wird.

60 Sollte also das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 eingestuft werden können, könnte das von einem dieser Notare ausgestellte Nachlasszeugnis als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. g dieser Verordnung eingestuft werden.

61 Zu den Zuständigkeitsregeln hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verordnung Nr. 650/2012, insbesondere ihr Art. 4, die internationale Zuständigkeit für Verfahren über Maßnahmen in Erbsachen betreffend den gesamten Nachlass wie insbesondere die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse unabhängig vom streitigen oder außerstreitigen Charakter dieser Verfahren bestimmt, wie sich auch aus dem 59. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 44 und 45).

62 Wie sich aus dem 22. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 ergibt, sind Notare, wenn sie gerichtliche Funktionen ausüben oder in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln, durch die Zuständigkeitsregeln in Kapitel II dieser Verordnung gebunden, und die von ihnen erlassenen Entscheidungen sollten nach den in Kapitel IV der Verordnung enthaltenen Bestimmungen über die Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen verkehren.

63 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden können, von ihnen ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, so dass die Notare für die Ausstellung der Nachlasszeugnisse die Zuständigkeitsregeln des Kapitels II dieser Verordnung anwenden können.

 

Zur vierten Frage

64 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 4 und 59 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass Notare eines Mitgliedstaats, die nicht als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden, berechtigt sind, Nachlasszeugnisse ohne die Befolgung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung auszustellen, und ob die Nachlasszeugnisse als „öffentliche Urkunden“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung anerkannt werden, die in anderen Mitgliedstaaten Wirkungen entfalten.

65 Konkret möchte das vorlegende Gericht mit dem ersten Teil der vierten Frage wissen, ob die litauischen Notare - sollten sie nicht als „Gerichte“ im Sinne der Verordnung Nr. 650/2012 eingestuft werden - zur Sicherstellung der einheitlichen Behandlung eines Nachlasses durch die Zuständigkeitsregeln in Kapitel II („Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 650/2012 gebunden sind und ob sie, bevor sie ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen, bestimmen müssen, welche Gerichte gegebenenfalls nach diesen Regeln zuständig wären.

66 Insoweit ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des 22. Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 650/2012, dass Notare, wenn sie keine gerichtlichen Funktionen ausüben, nicht durch die Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit gebunden sind.

67 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für Verfahren über Maßnahmen in Erbsachen betreffend den gesamten Nachlass bestimmt (Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 44). Dagegen werden nicht gerichtliche Behörden nicht von den Zuständigkeitsregeln des Kapitels II der Verordnung Nr. 650/2012 erfasst.

68 Daher ist festzustellen, dass die litauischen Notare, sollte das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass sie nicht als „Gerichte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 eingestuft werden können, nicht den in der Verordnung Nr. 650/2012 enthaltenen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit unterliegen und auch nicht bestimmen müssen, welche Gerichte gegebenenfalls nach den Bestimmungen des Kapitels II dieser Verordnung für die Entscheidung zuständig wären.

69 Im Übrigen gilt der Grundsatz der Einheitlichkeit für einen Nachlass nicht absolut, wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat. Die Verordnung Nr. 650/2012 regelt den Fall, dass die Behörden mehrerer Mitgliedstaaten in derselben Erbsache tätig werden. Haben die Erben oder Vermächtnisnehmer ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem der Nachlass abgewickelt wird oder werden soll, so können die Behörden des Mitgliedstaats ihres gewöhnlichen Aufenthalts nach Art. 13 der Verordnung Nr. 650/2012 Erklärungen in Bezug auf den Nachlass entgegennehmen. Dies entspricht dem im 32. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 650/2012 genannten Ziel, dem Interesse der Erben und Vermächtnisnehmer Rechnung zu tragen.

70 Diese Auslegung wird nicht durch Art. 64 der Verordnung Nr. 650/2012, der die Ausstellung des Europäischen Nachlasszeugnisses betrifft, entkräftet, der klarstellen soll, dass die Zuständigkeitsregeln der Art. 4, 7, 10 und 11 dieser Verordnung nicht nur für Gerichte im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung gelten, sondern auch für die anderen Behörden, die nach nationalem Recht für die Nachlassabwicklung zuständig sind. Für das durch die Verordnung Nr. 650/2012 geschaffene Europäische Nachlasszeugnis gilt nämlich eine autonome rechtliche Regelung, die in den Bestimmungen in Kapitel VI dieser Verordnung enthalten ist (Urteil vom 21. Juni 2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, Rn. 46).

71 Das vorlegende Gericht möchte außerdem mit dem zweiten Teil seiner vierten Frage wissen, ob das nationale Nachlasszeugnis als „öffentliche Urkunde“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 650/2012 einzustufen ist und welche Wirkungen es hat.

72 Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 650/2012 ist unter einer „öffentlichen Urkunde“ ein Schriftstück in Erbsachen zu verstehen, das als öffentliche Urkunde in einem Mitgliedstaat förmlich errichtet oder eingetragen worden ist und dessen Beweiskraft sich zum einen auf die Unterschrift und den Inhalt der öffentlichen Urkunde bezieht und zum anderen durch eine Behörde oder eine andere vom Ursprungsmitgliedstaat hierzu ermächtigte Stelle festgestellt worden ist.

73 Darüber hinaus ergibt sich aus dem 62. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass der Begriff „Authentizität“ autonom auszulegen ist und auf eine Reihe von Aspekten wie die Echtheit der Urkunde, die Formerfordernisse für die Urkunde, die Befugnisse der Behörde, die die Urkunde errichtet, und das Verfahren, nach dem die Urkunde errichtet wird, verweist. Die Authentizität sollte ferner die von der betreffenden Behörde in der Urkunde beurkundeten Vorgänge erfassen, wie z. B. die Tatsache, dass die genannten Parteien an dem genannten Tag vor dieser Behörde erschienen sind und die genannten Erklärungen abgegeben haben.

74 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Wenngleich allein das vorlegende Gericht für die Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, ist jedoch im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens der Gerichtshof, der dem nationalen Gericht sachdienliche Antworten geben soll, befugt, auf der Grundlage der ihm vorliegenden Akten Hinweise zu geben.

75 Im vorliegenden Fall ist, wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ein Nachlasszeugnis nach nationalem Recht eine öffentliche Urkunde und sind die Notare nach Art. 26 des Gesetzes über das Notariat zur Ausstellung von Nachlasszeugnissen befugt, die Angaben enthalten, die als feststehend gelten.

76 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen scheint daher ein nationales Nachlasszeugnis wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. i der Verordnung Nr. 650/2012 zu erfüllen.

77 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht das nationale Nachlasszeugnis als öffentliche Urkunde im Sinne der genannten Bestimmung ansehen sollte, ist hinsichtlich seiner Wirkungen erstens darauf hinzuweisen, dass aus Art. 59 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 hervorgeht, dass eine in einem Mitgliedstaat errichtete öffentliche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat die gleiche formelle Beweiskraft wie im Ursprungsmitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung hat. Hierzu heißt es im 61. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass die formelle Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat oder die damit am ehesten vergleichbare Wirkung durch Bezugnahme auf Art und Umfang der formellen Beweiskraft der öffentlichen Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt werden sollte. Somit richtet sich die formelle Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats.

78 Außerdem kann nach Art. 59 Abs. 1 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 eine Person, die eine öffentliche Urkunde in einem anderen Mitgliedstaat verwenden möchte, die Behörde, die die öffentliche Urkunde im Ursprungsmitgliedstaat errichtet, ersuchen, das Formblatt auszufüllen, das dem in Anhang 2 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1329/2014 der Kommission vom 9. Dezember 2014 zur Festlegung der Formblätter nach Maßgabe der Verordnung Nr. 650/2012 (ABl. 2014, L 359, S. 30) enthaltenen entspricht.

79 Zweitens werden nach Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 öffentliche Urkunden, die im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Verfahren der Art. 45 bis 58 dieser Verordnung für vollstreckbar erklärt.

80 Nach alledem ist auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 4 und 59 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass Notare eines Mitgliedstaats, die nicht als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden, berechtigt sind, nationale Nachlasszeugnisse ohne die Befolgung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung auszustellen. Wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die nationalen Nachlasszeugnisse die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung erfüllen und daher als „öffentliche Urkunden“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, entfalten diese Nachlasszeugnisse in den anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen, die Art. 59 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 den öffentlichen Urkunden verleihen.

 

Zur sechsten Frage

81 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 4, 5, 7 und 22 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass aufgrund des Willens des Erblassers und der Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten ein in Erbsachen zuständiges Gericht bestimmt und ein Erbrecht eines Mitgliedstaats angewandt werden kann, die sich von denjenigen unterscheiden, die sich aus der Anwendung der in dieser Verordnung aufgestellten Kriterien ergeben würden.

82 Was die Bestimmung des für Erbsachen zuständigen Gerichts betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 eine allgemeine Regel enthält, wonach für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, während Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung von dieser allgemeinen Regel abweichende Bestimmungen enthält, wonach die Parteien des Nachlassverfahrens vereinbaren können, dass die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen zuständig sind, der nach den Kriterien dieser Verordnung zuständig wäre.

83 Nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 können die Verfahrensparteien vereinbaren, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, dessen Recht der Erblasser nach Art. 22 dieser Verordnung zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählt hat, für Entscheidungen in Erbsachen ausschließlich zuständig sein sollen.

84 Art. 5 Abs. 2 und Art. 7 der Verordnung Nr. 650/2012 enthalten die Formerfordernisse, die erfüllt sein müssen, damit die Gerichtsstandsvereinbarung wirksam ist. Im Einzelnen ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 und Art. 7 Buchst. b dieser Verordnung, dass diese Vereinbarung der Schriftform bedarf und zu datieren und von den Verfahrensparteien zu unterzeichnen ist oder dass die Verfahrensparteien, wie in Art. 7 Buchst. c der Verordnung vorgesehen, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ausdrücklich anerkannt haben müssen.

85 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten zwar nicht hervor, dass die Parteien des Nachlassverfahrens eine Vereinbarung gemäß den oben genannten Voraussetzungen getroffen haben, um den litauischen Gerichten die ausschließliche Zuständigkeit zu übertragen, jedoch weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der überlebende Ehegatte der Erblasserin, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitze und im Zeitpunkt ihres Todes mit ihr in Deutschland gelebt habe, erklärt habe, einer solchen Zuständigkeit zuzustimmen.

86 Wie der Generalanwalt in Nr. 121 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob eine derartige Erklärung im Ausgangsverfahren die Zuständigkeit im Sinne von Art. 7 Buchst. c der Verordnung Nr. 650/2012 begründen kann.

87 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 650/2012 ausweislich ihres 29. Erwägungsgrundes nicht dahin auszulegen ist, dass sie die Parteien daran hindert, die Erbsache außergerichtlich in einem Mitgliedstaat ihrer Wahl einvernehmlich zu regeln, wenn dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaats möglich ist und selbst wenn das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht nicht das Recht dieses Mitgliedstaats ist.

88 Was die Frage betrifft, ob der Wille des Erblassers und die Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten zur Anwendung des Erbrechts eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen führen können, der sich aus der Anwendung der in der Verordnung Nr. 650/2012 aufgestellten Kriterien ergeben würde, ist darauf hinzuweisen, dass eine Person nach Art. 22 („Rechtswahl“) Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen kann, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört. Außerdem muss nach Art. 22 Abs. 2 dieser Verordnung die Rechtswahl ausdrücklich in einer Erklärung in Form einer Verfügung von Todes wegen erfolgen oder sich aus den Bestimmungen einer solchen Verfügung ergeben.

89 Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, ist Art. 22 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 im Licht ihres 39. Erwägungsgrundes zu lesen, wonach sich die Rechtswahl durch eine Verfügung von Todes wegen ergeben kann, insbesondere wenn der Erblasser Bezug auf spezifische Bestimmungen des Rechts des Staates, dem er angehört, genommen hat.

 

90 Da im vorliegenden Fall litauisches Recht das Recht des Mitgliedstaats ist, dem die Erblasserin im Zeitpunkt ihres Todes angehörte, konnte dieses Recht nach Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 wirksam gewählt werden. Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sich eine solche Wahl gemäß Art. 22 Abs. 2 dieser Verordnung aus den Bestimmungen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Testaments ergibt.

91 Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass das erwähnte Testament am 4. Juli 2013 vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 650/2012 in Litauen errichtet wurde und dass die betroffene Person nach dem 17. August 2015, also nach Inkrafttreten dieser Verordnung, verstorben ist. Daher können gemäß Art. 83 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 auch die in diesem Artikel genannten Übergangsbestimmungen relevant sein.

92 Art. 83 Abs. 2 dieser Verordnung betrifft die Fälle, in denen der Erblasser das auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht vor dem 17. August 2015 gewählt hatte. Wie der Generalanwalt in Nr. 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht das Ziel dieser Bestimmung darin, den Willen des Erblassers zu achten, und ist die Rechtswahl nur dann wirksam, wenn die in der genannten Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind. Dagegen regelt Art. 83 Abs. 4 die Fälle, in denen eine Verfügung von Todes wegen keine Rechtswahl enthält.

93 Konkret gilt in dem Fall, dass eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach dem Recht errichtet wurde, welches der Erblasser gemäß dieser Verordnung wählen konnte, gemäß dem genannten Art. 83 Abs. 4 dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht.

94 Diese Bestimmung ist im vorliegenden Fall anwendbar, da zum einen das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Testament vor dem 17. August 2015 errichtet wurde und zum anderen das litauische Recht gemäß Art. 22 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 gewählt werden konnte, da die Verstorbene im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments die litauische Staatsangehörigkeit besaß. Folglich gilt dieses Recht, nach dem das Testament errichtet wurde, als das auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht.

95 In diesem Zusammenhang ist schließlich darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften dieser Verordnung ausweislich ihres 27. Erwägungsgrundes so angelegt sind, dass sichergestellt wird, dass die mit der Erbsache befasste Behörde in den meisten Situationen ihr eigenes Recht anwendet.

96 Nach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass die Art. 4, 5, 7 und 22 sowie Art. 83 Abs. 2 und 4 der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen sind, dass aufgrund des Willens des Erblassers und der Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten ein in Erbsachen zuständiges Gericht bestimmt und ein Erbrecht eines Mitgliedstaats angewandt werden kann, die sich von denjenigen unterscheiden, die sich aus der Anwendung der in dieser Verordnung aufgestellten Kriterien ergeben würden.

 

Kosten

97 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Die Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass ein „Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug“ vorliegt, wenn der Erblasser die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und im Zeitpunkt seines Todes seinen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat hatte, aber seine Verbindung zu dem erstgenannten Mitgliedstaat - in dem sich das Nachlassvermögen befindet, während die Erbberechtigten ihren Aufenthalt in diesen beiden Mitgliedstaaten haben - nicht abgebrochen hatte. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers im Sinne dieser Verordnung ist von der mit der Erbsache befassten Behörde in nur einem dieser Mitgliedstaaten festzulegen.

2. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass die litauischen Notare - vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht - keine gerichtlichen Funktionen ausüben, wenn sie ein nationales Nachlasszeugnis ausstellen. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die Notare in Ausübung einer Befugnisübertragung oder unter der Aufsicht eines Gerichts handeln und folglich als „Gerichte“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können.

3. Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass für den Fall, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die litauischen Notare als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden können, von ihnen ausgestellte Nachlasszeugnisse als „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, so dass die Notare für die Ausstellung der Nachlasszeugnisse die Zuständigkeitsregeln des Kapitels II dieser Verordnung anwenden können.

4. Die Art. 4 und 59 der Verordnung Nr. 650/2012 sind dahin auszulegen, dass Notare eines Mitgliedstaats, die nicht als „Gerichte“ im Sinne dieser Verordnung eingestuft werden, berechtigt sind, nationale Nachlasszeugnisse ohne die Befolgung der allgemeinen Zuständigkeitsregeln dieser Verordnung auszustellen. Wenn das vorlegende Gericht der Auffassung ist, dass die nationalen Nachlasszeugnisse die Voraussetzungen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. i dieser Verordnung erfüllen und daher als „öffentliche Urkunden“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden können, entfalten diese Nachlasszeugnisse in den anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen, die Art. 59 Abs. 1 und Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012 den öffentlichen Urkunden verleihen.

5. Die Art. 4, 5, 7 und 22 sowie Art. 83 Abs. 2 und 4 der Verordnung Nr. 650/2012 sind dahin auszulegen, dass aufgrund des Willens des Erblassers und der Vereinbarung zwischen seinen Erbberechtigten ein in Erbsachen zuständiges Gericht bestimmt und ein Erbrecht eines Mitgliedstaats angewandt werden kann, die sich von denjenigen unterscheiden, die sich aus der Anwendung der in dieser Verordnung aufgestellten Kriterien ergeben würden.