EuGH (Dritte Kammer), Urt. v. 12.10.2023 – C-21/22 - Ausschluss der Rechtswahl durch einen in einem EU-Mitgliedstaat wohnhaften Drittstaatsangehörigen bei nach Art. 75 EuErbVO vorrangigen Abkommen

 

 

EuErbVO Art. 22, 75, 21, 12 Abs. 1

 

  1. Art. 22 EuErbVO ist dahin auszulegen, dass ein in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann. (n. amtl. Ls.)

 

  1. Art. 75 EuErbVO ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger, wenn dieser Mitgliedstaat vor der Annahme der Verordnung mit dem Drittstaat ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das das auf Erbsachen anzuwendende Recht vorgibt und nicht ausdrücklich die Möglichkeit der Wahl eines anderen Rechts vorsieht, nicht für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

 

Sachverhalt:

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 22 und 75 EuErbVO. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OP, einer ukrainischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Polen, wo sie Miteigentümerin einer Immobilie ist, und dem Vertreter des Notariusz Justyna Gawlica (Notarin Justyna Gawlica), die das Notariat von Krapkowice betreibt (im Folgenden: Notarvertreter), wegen seiner Weigerung, ein öffentliches Testament mit einer Klausel zu errichten, wonach für den Nachlass von OP ukrainisches Recht gilt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

 

In den Erwägungsgründen (ErwG) 7, 37, 38, 57 und 59 EuErbVO heißt es: (…)

Art. 5 Abs. 1 EuErbVO bestimmt: (…)

In Art. 6 EuErbVO heißt es: (…)

Art. 12 Abs. 1 EuErbVO lautet: (…)

Art. 20 EuErbVO lautet: (…)

Art. 21 EuErbVO bestimmt: (…)

In Art. 22 Abs. 1 EuErbVO heißt es: (…)

Art. 75 Abs. 1 EuErbVO sieht vor: (…)

Polnisches Recht

 

Art. 37 des Abkommens vom 24.5.1993 zwischen der Republik Polen und der Ukraine über Rechtshilfe und Rechtsbeziehungen in Zivil- und Strafsachen (im Folgenden: bilaterales Abkommen) bestimmt:

 

„Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen bei beweglichen Vermögenswerten unterliegen dem Recht der Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes besaß. Rechtsverhältnisse im Zusammenhang mit der Rechtsnachfolge von Todes wegen bei unbeweglichen Vermögenswerten unterliegen dem Recht der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet diese Vermögenswerte belegen sind. Die Einordnung eines zum Nachlass gehörenden Vermögenswerts als beweglicher oder unbeweglicher Vermögenswert unterliegt dem Recht der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet sich der Vermögenswert befindet.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

OP ist eine ukrainische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Polen, wo sie Miteigentümerin einer Immobilie ist. Sie bat den Notarvertreter, ein öffentliches Testament mit einer Klausel zu errichten, wonach für ihren Nachlass ukrainisches Recht gilt. Der Notarvertreter lehnte die Errichtung einer solchen Urkunde ab. Gemäß Art. 22 EuErbVO iVm dem 38. ErwG der Verordnung stehe die Rechtswahl nur Angehörigen der Mitgliedstaaten der Union offen. Zweitens sei nach Art. 37 des bilateralen Abkommens, das jedenfalls Vorrang gegenüber der Verordnung habe, auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen bei beweglichen Vermögenswerten das Recht des Staates anzuwenden, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besitze, und bei unbeweglichen Vermögenswerten das Recht des Staates, in dem diese belegen seien. Nach Auffassung des Notarvertreters ist daher auf die Rechtsnachfolge von OP polnisches Recht anzuwenden, soweit es um deren in Polen belegene Immobilien gehe.

 

OP erhob gegen diese Weigerung des Notarvertreters Klage beim Sąd Okręgowy w Opolu (Regionalgericht Opole, Polen), dem vorlegenden Gericht, weil die Weigerung auf einem Fehlverständnis der EuErbVO beruhe. Sie macht insoweit insbesondere geltend, dass nach Art. 22 „eine Person“ das Recht des Staates, dem sie angehöre, als auf ihre Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendendes Recht wählen könne. Weiter trägt sie vor, dass Art. 75 Abs. 1 EuErbVO deren Vereinbarkeit mit den Verpflichtungen gewährleisten solle, die sich aus Übereinkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten ergäben. Da jedoch das bilaterale Abkommen die Rechtswahl in Erbsachen nicht regele, stehe es der Anwendung von Art. 22 EuErbVO nicht entgegen.

 

Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Opole beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

 

  1. Ist Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen, dass eine Person, die nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht ihres Heimatstaats wählen kann?

 

  1. Ist Art. 75 EuErbVO iVm ihrem Art. 22 dahin auszulegen, dass im Fall eines zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat bestehenden bilateralen Abkommens, das zwar nicht die Frage der Rechtswahl in Erbsachen regelt, aber das darauf anwendbare Recht vorgibt, ein Staatsangehöriger dieses Drittstaats, der in dem durch das bilaterale Abkommen gebundenen Mitgliedstaat wohnt, das anwendbare Recht wählen kann?

 

Gründe:

Zur ersten Frage

 

16 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen ist, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

 

17 Art. 22 EuErbVO bestimmt, dass eine „Person … für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen [kann], dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört“.

 

18 Wie aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervorgeht, bezieht sie sich auf jede „Person“, ohne zwischen den Angehörigen von Mitgliedstaaten der Union und Drittstaatsangehörigen zu unterscheiden. Die einzige Beschränkung der für eine solche Person bestehenden Rechtswahlfreiheit besteht darin, dass sie nur das Recht eines Staates wählen kann, dem sie angehört, unabhängig davon, ob dieser Staat ein Mitgliedstaat der Union ist.

 

19 Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche Rechtswahlfreiheit nur für die Unionsbürger besteht.

 

20 Diese wörtliche Auslegung wird durch andere Bestimmungen der EuErbVO gestützt, die ebenfalls auf das Recht eines Drittstaats verweisen.

 

21 So bestimmt erstens Art. 20 EuErbVO, dass das nach dieser Verordnung bezeichnete Recht auch dann anzuwenden ist, wenn es nicht das Recht eines Mitgliedstaats ist. Zwar geht aus dem 57. ErwG der EuErbVO hervor, dass die in dieser Verordnung festgelegten Kollisionsnormen dazu führen können, dass das Recht eines Drittstaats zur Anwendung gelangt, und dass in derartigen Fällen den Vorschriften des Internationalen Privatrechts dieses Staates Rechnung getragen werden sollte, doch wird ausdrücklich präzisiert, dass eine solche Art der Verweisung „in den Fällen ausgeschlossen werden [sollte], in denen der Erblasser eine Rechtswahl zugunsten des Rechts eines Drittstaats getroffen hatte“.

 

22 Zweitens beschränkt Art. 5 EuErbVO die Gerichtsstandsvereinbarungen auf Fälle, in denen „das vom Erblasser nach Art. 22 [dieser Verordnung] zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählte Recht das Recht eines Mitgliedstaats [ist]“. Zudem regelt Art. 6 EuErbVO die Unzuständigerklärung, wenn „das Recht, das der Erblasser nach Art. 22 zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählt hat, das Recht eines Mitgliedstaats [ist]“. Solche Klarstellungen sind nur dann sinnvoll, wenn eine andere Wahlmöglichkeit als das Recht eines Mitgliedstaats besteht. Handelt es sich nicht um das Recht eines Mitgliedstaats, kann es sich nur um das Recht eines Drittstaats handeln.

 

23 Drittens bezieht sich der 38. ErwG der EuErbVO, wonach „[d]iese Verordnung … es den Bürgern ermöglichen [sollte], durch die Wahl des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Rechts ihren Nachlass vorab zu regeln“, ganz allgemein auf „Bürger“ und nicht nur auf die Unionsbürger.

 

24 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen ist, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

 

Zur zweiten Frage

 

25 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 75 iVm Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen ist, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger, wenn dieser Mitgliedstaat vor dem Erlass der Verordnung mit dem Drittstaat ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das das auf Erbsachen anzuwendende Recht vorgibt und nicht ausdrücklich die Möglichkeit der Wahl eines anderen Rechts vorsieht, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

 

26 Insoweit geht im Wesentlichen aus Art. 75 Abs. 1 EuErbVO hervor, dass deren Anwendung die Anwendung internationaler Übereinkommen, denen ein oder mehrere Mitgliedstaaten angehören, unberührt lässt, soweit zum einen der oder die betreffenden Mitgliedstaaten dem fraglichen internationalen Übereinkommen bereits zum Zeitpunkt der Annahme der EuErbVO angehörten und zum anderen dieses Übereinkommen Bereiche betrifft, die in der Verordnung geregelt sind. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden, wenn der Unionsgesetzgeber vorsieht, dass die Anwendung einer Verordnung die bestehenden Übereinkommen „unberührt … [lässt]“, im Fall von mit einer solchen Verordnung konkurrierenden Regeln die Übereinkommen Anwendung (EuGH v. 4.5.2010,TNT Express Nederland, C-533/08, ECLI:EU:C:2010:243, NJW 2010, 1736 Rn. 46).

 

27 Wenn ein Mitgliedstaat Partei eines vor dem Inkrafttreten der EuErbVO geschlossenen bilateralen Abkommens ist und dieses auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Bestimmungen enthält, sind daher grds. diese und nicht die einschlägigen Vorschriften der EuErbVO anzuwenden.

 

28 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 29 und 30 seiner Schlussanträge ausführt, ist Art. 75 EuErbVO in den Rechtsakten der Union über die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen zudem kein Einzelfall. Denn zahlreiche weitere Verordnungen und Übereinkünfte betreffen die Beziehungen zwischen Privatpersonen im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und enthalten Vorschriften, die einer ähnlichen Logik wie Art. 75 EuErbVO folgen.

 

29 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass der Artikel, der im Rahmen des betreffenden Unionsrechtsakts die Beziehungen zwischen diesem und den internationalen Übereinkommen regelt, in seiner Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren darf, die der Regelung, zu der dieser Artikel gehört, zugrunde liegen (EuGH NJW 2010, 1736 Rn. 51).

 

30 Im vorliegenden Fall bezweckt die EuErbVO, wie im Wesentlichen aus ihren ErwG 7 und 59 hervorgeht, Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug Schwierigkeiten bereiten kann, u.a. durch die Einführung von Regeln über die Zuständigkeit und das anzuwendende Recht in diesem Bereich sowie über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Urkunden aus anderen Mitgliedstaaten in einem Mitgliedstaat auszuräumen.

 

31 Insoweit enthält Art. 21 („Allgemeine Kollisionsnorm“) EuErbVO einen standardmäßigen Anknüpfungspunkt, der durch Bezugnahme auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes bestimmt wird. Angesichts der Struktur dieser Verordnung ist die in Art. 22 EuErbVO vorgesehene Möglichkeit, das Recht des Staates zu wählen, dem der Erblasser angehört, als Ausnahme von der allgemeinen Kollisionsnorm in Art. 21 EuErbVO zu verstehen.

 

32 Zudem stellen sowohl der gewöhnliche Aufenthalt als auch die Staatsangehörigkeit objektive Anknüpfungspunkte dar, die beide zur Erreichung des nach dem 37. ErwG mit dieser verfolgten Ziels der Rechtssicherheit für die Beteiligten des Nachlassverfahrens beitragen.

 

33 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann die Möglichkeit, das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht zu wählen, nicht als Grundsatz angesehen werden, auf dem die EuErbVO und damit die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Union beruht, zu deren Instrumenten diese Verordnung gehört.

 

34 Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass die allgemeine Zielsetzung dieser Verordnung, nämlich die gegenseitige Anerkennung der in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen in Erbsachen, sich in den Grundsatz der Einheitlichkeit der Erbfolge einfügt (EuGH v. 21.6.2018, Oberle, C-20/17, ECLI:EU:C:2018:485, ZEV 2018, 465 mAnm Zimmermann, Rn. 53 f.). Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Grundsatz mit uneingeschränkter Geltung (EuGH v. 16.7.2020, EE (Gerichtliche Zuständigkeit und auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendendes Recht), C-80/19, ECLI:EU:C:2020:569, ZEV 2020, 628 Rn. 69).

 

35 Wie vom Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt, sieht Art. 12 Abs. 1 EuErbVO ausdrücklich eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, indem er es ermöglicht, dass das zuständige Gericht nicht über in Drittstaaten belegene Vermögenswerte befindet, weil zu befürchten ist, dass die Entscheidung in diesen Drittstaaten nicht anerkannt oder nicht für vollstreckbar erklärt wird.

 

36 Der Unionsgesetzgeber wollte also in bestimmten Sonderfällen ausdrücklich das Modell der Nachlassspaltung beachten, das im Verhältnis zu bestimmten Drittstaaten angewandt werden kann.

 

37 Folglich steht die Systematik der EuErbVO dem nicht entgegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der in einem Mitgliedstaat wohnt, der durch ein mit dem Drittstaat vor der Annahme der Verordnung geschlossenes bilaterales Abkommen gebunden ist, gemäß diesem Abkommen und aufgrund der in Art. 75 Abs. 1 EuErbVO vorgesehenen Ausnahme nicht die Möglichkeit hat, das auf seine Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendende Recht zu wählen. Dieses Ergebnis steht auch mit dem in Art. 351 Abs. 1 AEUV verankerten Grundsatz in Einklang, der die Wirkungen internationaler Übereinkünfte betrifft, die von den Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt zur Union geschlossen wurden.

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38 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 75 iVm Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger, wenn dieser Mitgliedstaat vor der Annahme der Verordnung mit dem Drittstaat ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das das auf Erbsachen anzuwendende Recht vorgibt und nicht ausdrücklich die Möglichkeit der Wahl eines anderen Rechts vorsieht, nicht für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.