EuGH, Beschl. v. 17.7.2023 – C-55/23 (Keine Bindung eines unterinstanzlichen Gerichts an die unionsrechtswidrige Auslegung durch ein übergeordnetes Gericht (hier: Polen) im Hinblick auf die subsidiäre Zuständigkeit)

 

EuErbVO Art. 4, 10 Abs. 1 Buchst. a; AEUV Art. 267; EuGHVfO Art. 99

 

  1. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anzuwenden ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte. (n. amtl. Ls.)

 

  1. Das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, ist dahin auszulegen, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist. (n. amtl. Ls.)

 

EuGH, Beschl. v. 17.7.2023 – C-55/23

 

Sachverhalt:

Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines auf Antrag von PA eingeleiteten Gerichtsverfahrens zur Feststellung der Erben ihres Bruders, der in Hamburg verstorben ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

In den Erwägungsgründen 23 und 30 EuErbVO heißt es: (…)

Kap. II („Zuständigkeit“) dieser Verordnung umfasst ua die Art. 4–10 und 15: (…)

Art. 22 („Rechtswahl“) Abs. 1 EuErbVO, der Teil des Kap. III („Anzuwendendes Recht“) ist, bestimmt: (…)

Polnisches Recht

Art. 386 Abs. 6 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung – poln. ZPO) vom 17.11.1964 in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung (Dz.U. 2021, Pos. 1805) bestimmt:

„Die rechtliche Beurteilung, die in der Urteilsbegründung des zweitinstanzlichen Gerichts zum Ausdruck kommt, bindet sowohl das Gericht, an das die Rechtssache verwiesen wurde, als auch das zweitinstanzliche Gericht, wenn es in der Rechtssache erneut entscheidet. Dies gilt jedoch nicht, wenn sich die Rechtslage oder der Sachverhalt geändert hat oder wenn nach dem Erlass des Urteils der zweiten Instanz der Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht, Polen] in einem Beschluss, der eine Rechtsfrage klärt, eine andere rechtliche Beurteilung zum Ausdruck gebracht hat.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Der Erblasser (E), ein polnischer Staatsangehöriger, verstarb am 9.5.2020 in Hamburg. PA, die Schwester des E, hat beim Sąd Rejonowy Szczecin – Prawobrzeże i Zachód w Szczecinie (Rayongericht Szczecin, Szczecin-Rechtes Ufer und -West, Polen), dem vorlegenden Gericht, die Feststellung der Erben des E beantragt. In ihrem Antrag führte PA aus, dass E seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Hamburg gehabt habe, dass er in Polen Immobilien besessen und kein auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbares Recht gewählt habe. Sie legte außerdem dar, dass sie selbst, der Sohn, die Ehefrau, die Mutter und die Nichte des E die Erbschaft vor einem deutschen Gericht ausgeschlagen hätten.

Am 30.8.2022 wies das vorlegende Gericht den Antrag von PA mit der Begründung zurück, dass die polnischen Gerichte nicht für Entscheidungen über die Rechtsnachfolge eines Erblassers zuständig seien, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als Polen hatte. Es schloss die Anwendbarkeit der Bestimmung zur subsidiären Zuständigkeit gem. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO aus, da diese nur Erblasser betreffe, die ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat gehabt hätten.

Am 14.11.2022 hob der Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Szczecin, Polen) aufgrund einer Beschwerde den Beschluss vom 30.8.2022 auf, da das vorlegende Gericht Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO falsch ausgelegt habe. Diese Bestimmung räume dem Mitgliedstaat, in dem der Erblasser Vermögen hinterlassen hat und dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, eine subsidiäre Zuständigkeit ein, auch wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte.

Das vorlegende Gericht, das nun erneut mit dem Ausgangsrechtsstreit befasst ist, schließt sich der durch den Sąd Okręgowy w vorgenommenen Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO nicht an, da diese seiner Ansicht nach sowohl dem Wortsinn der Bestimmung widerspricht als auch den Zielen der EuErbVO.

Das vorlegende Gericht macht geltend, dass ein angerufenes Gericht nach nationalem Recht an die Auslegung von Unionsrecht durch ein übergeordnetes Gericht gebunden sei, selbst wenn diese falsch sei, so dass der Konflikt bzgl. der in Rede stehenden Auslegung des Unionsrechts nur mittels Beantwortung einer Vorlagefrage durch den EuGH gelöst werden könne. Im nationalen Recht gebe es keine Bestimmung, die ausdrücklich besage, dass eine Antwort des EuGH ein Gericht berechtige, von der fehlerhaften Auslegung des übergeordneten Gerichts abzuweichen. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass es, um zur Erreichung der mit Art. 267 AEUV verfolgten Ziele beizutragen, befugt sein müsse, der durch ein Vorabentscheidungsurteil erfolgten Auslegung des Unionsrechts umfassend Rechnung zu tragen, selbst wenn sich diese von der durch das im Ausgangsrechtsstreit übergeordnete nationale Gericht vorgenommenen Auslegung unterscheide.

Vor diesem Hintergrund hat das Rayongericht Szczecin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

 

  1. Ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO dahin auszulegen, dass er nur dann anwendbar ist, wenn der Erblasser seinen Wohnsitz in keinem der durch die Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten hatte, oder räumt er dem Mitgliedstaat, in dem der Erblasser Vermögen hinterlassen und dessen Staatsangehörigkeit er zum Zeitpunkt seines Todes besessen hat, eine subsidiäre Zuständigkeit ein, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen durch die Verordnung gebundenen Mitgliedstaat hatte?

 

  1. Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Gericht an eine rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts, die die Auslegung des Unionsrechts betrifft, gebunden ist, die der Auslegung durch den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsurteils auch in diesem konkreten Fall widerspricht?

 

Gründe:

Zu den Vorlagefragen

20 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung (EuGHVfO) kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn diese Antwort keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

 

21 Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof zur ersten Frage fest, dass der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Zur zweiten Frage weist er darauf hin, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts klar aus dem Urteil vom 5.10.2010 (C-173/09, Elchinov, ECLI:EU:C:2010:581, BeckRS 2010, 91158), abgeleitet werden kann. Folglich ist in der vorliegenden Rechtssache Art. 99 EuGHVfO anzuwenden.

 

Zur ersten Frage

 

22 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anwendbar ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

 

23 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 EuErbVO eine allgemeine Zuständigkeitsregel begründet, wonach für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

 

24 Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, können nach den Art. 5–9 EuErbVO die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besessen hat, zuständig sein, wenn der Erblasser nach Art. 22 EuErbVO für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht dieses Mitgliedstaats gewählt hat.

 

25 Im Übrigen stellt Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO eine Regelung über die subsidiäre Zuständigkeit für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats auf, in dem sich Nachlassvermögen befindet, wenn der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besaß. Aus dem Wortlaut des ersten Teils von Art. 10 Abs. 1 EuErbVO ergibt sich jedoch, dass die subsidiäre Zuständigkeit nach dieser Bestimmung nur für den Fall vorgesehen ist, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatte.

 

26 In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof durch die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO im Urteil vom 7.4.2022 – C-645/20, V A und Z A (ZEV 2022, 536, subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen) klargestellt hat, dass sowohl Art. 4 als auch Art. 10 Abs. 1 EuErbVO das alleinige Ziel verfolgen, einheitliche Kriterien der gerichtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über den gesamten Nachlass zu definieren. Art. 10 EuErbVO, der zu deren Kap. II gehört, in dem eine Reihe von Zuständigkeitsregeln in Erbsachen aufgestellt wird, sieht eine subsidiäre Zuständigkeit gegenüber der allgemeinen Zuständigkeit vor, die durch die in Art. 4 EuErbVO aufgestellte Regel festgelegt wird, nach der für Entscheidungen in Erbsachen die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für den gesamten Nachlass zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (EuGH ZEV 2022, 536 Rn. 30).

 

27 In diesem Zusammenhang hat der EuGH festgestellt, dass zwischen dem in Art. 4 EuErbVO bestimmten Gerichtsstand und dem in deren Art. 10 bestimmten Gerichtsstand keine Rangfolge besteht, da sich ein jeder auf unterschiedliche Fallgestaltungen bezieht. Ebenso bedeutet der Umstand, dass die in Art. 10 EuErbVO genannten Zuständigkeiten als „subsidiär“ eingestuft werden, nicht, dass diese Bestimmung weniger verbindlich wäre als diejenige in Art. 4 EuErbVO zur allgemeinen Zuständigkeit. Insoweit legt die adversative Formulierung in Art. 10 Abs. 1 EuErbVO nahe, dass sich diese Bestimmung auf eine Zuständigkeitsregel bezieht, die der allgemeinen von Art. 4 gleichwertig ist und sie ergänzt, so dass im Fall der Unanwendbarkeit des zuletzt genannten Artikels zu prüfen ist, ob die in Art. 10 EuErbVO vorgesehenen Zuständigkeitskriterien erfüllt sind (EuGH ZEV 2022, 536 Rn. 33 u. 34).

 

28 Darüber hinaus hat der EuGH entschieden, dass diese Regeln zur gerichtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung in Erbsachen für den gesamten Nachlass den Beteiligten – vorbehaltlich der Anwendung von Art. 5 EuErbVO im Fall einer Wahl des auf den Nachlass anwendbaren Rechts durch den Erblasser – nicht die Möglichkeit geben, nach Maßgabe ihrer Interessen eine Wahl zugunsten der Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats zu treffen (EuGH ZEV 2022, 536 Rn. 32).

 

29 Zum Hintergrund dieser Auslegung durch den EuGH ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 25 des Urteils in ZEV 2022, 536 von der Prämisse ausgegangen ist, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hatte, also in einem Mitgliedstaat, der bereits vor dem Austritt aus der Union nicht an die EuErbVO gebunden war. Er führte im Hinblick auf die Auslegung von Art. 10 EuErbVO aus, dass die in diesem Artikel vorgesehenen Zuständigkeitsregeln auch zur Anwendung kommen können, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union hatte, der nicht an diese Verordnung gebunden ist.

 

30 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass E seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte und dass er kein auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbares Recht gewählt hat.

 

31 Vor diesem Hintergrund ist dem eindeutigen Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO klar zu entnehmen, dass diese Bestimmung nicht auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anzuwenden ist, in der der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat hatte.

 

32 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. a EuErbVO dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anzuwenden ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

 

Zur zweiten Frage

 

33 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

 

34 Nach ständiger Rechtsprechung haben die nationalen Gerichte gem. Art. 267 AEUV ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den EuGH, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen (EuGH BeckRS 2010, 91158 Rn. 26).

 

35 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bzgl. der Auslegung oder der Gültigkeit der in Rede stehenden Rechtsakte der Unionsorgane bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens bindet (EuGH BeckRS 2010, 91158 Rn. 29 und die dort angeführte Rspr.).

 

36 Insoweit ist das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den EuGH für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden und muss ggf. von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (EuGH BeckRS 2010, 91158 Rn. 30; v. 9.9.2021 – C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy, ECLI:EU:C:2021:722, BeckRS 2021, 26150 Rn. 46).

 

37 Im Übrigen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (in diesem Sinn EuGH BeckRS 2010, 91158Rn. 31 und die dort angeführte Rspr.; EuGH BeckRS 2021, 26150 Rn. 45 und die dort angeführte Rspr.).

 

38 Insbesondere bzgl. innerstaatlicher Vorschriften, nach denen ein nationales Gericht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch ein anderes nationales Gericht gebunden ist, hat der EuGH bereits entschieden, dass es mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Vorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht (EuGH BeckRS 2010, 91158 Rn. 32)

 

39 Unter diesen Umständen umfasst das Erfordernis, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung ggf. abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist (EuGH BeckRS 2021, 26150 Rn. 47).

 

40 Daher ist das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall verpflichtet, für die volle Wirksamkeit von Art. 267 AEUV Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die nationalen Verfahrensvorschriften – hier Art. 386 Abs. 6 poln. ZPO –, die es verpflichten, der Auslegung durch das Regionalgericht Szczecin zu folgen, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

 

41 Nach alledem ist die zweite Frage so zu beantworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.