Wertermittlungsanspruch des Pflichtteilsberechtigten

Damit der Pflichtteilsberechtigte überhaupt berechnen kann, wie hoch sein Pflichtteilsanspruch ist, hat der Pflichtteilberechtigte gegen den Erben zunächst einen Anspruch auf Vorlage eines Verzeichnisses über den Nachlass. In einem solchen Verzeichnis sind die einzelnen zum Nachlass gehörenden Gegenstände und deren wertbildenden Faktoren aufzuführen. Gehört zum Nachlass etwa ein PKW, so genügt die Angabe „PKW Mercedes“ nicht. Vielmehr müssen weitere Angaben zum Typ, Baujahr, KM-Leistung, Ausstattung etc. gemacht werden, weil diese Faktoren wertbildend sind und ohne diese Angaben ein Wert nicht ermittelt werden kann. Häufig ist es jedoch so, dass der Pflichtteilsberechtigte auch bei näheren Angaben zum Gegenstand im Verzeichnis den Wert nicht ermitteln kann, zum Beispiel weil ihm die Sachkenntnis hierzu fehlt. Dies ist insbesondere bei Immobilien und Schmuck anzunehmen. Deshalb kann der Pflichtteilsberechtigte neben dem Verzeichnis auch verlangen, dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird (§ 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB).

Wird der Wert des Nachlassgegenstandes durch ein Sachverständigengutachten verbindlich festgelegt?

Der Wertermittlungsanspruch dient nicht dazu, für den Pflichtteilsberechtigten und den Erben verbindlich den Wert des Nachlassgegenstandes im Zeitpunkt des Erbfalles festzulegen. Der Wertermittlungsanspruch soll dem Pflichtteilsberechtigten vielmehr die Beurteilung des Risikos eines Rechtsstreits über den Pflichtteil erleichtern (BGH, Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20).

Bei der Berechnung des Pflichtteils ist der Bestand und der Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalles zugrunde zu legen. Der Pflichtteilsberechtigte ist wirtschaftlich so zu stellen, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden. Bei der Bewertung von Nachlassgegenständen ist deshalb auf den so genannten gemeinen Wert abzustellen, also dem Wert der dem Verkaufswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht. Da auch Bewertungen durch einen Sachverständigen mit Unsicherheiten verbunden sind und tatsächliche Verkaufswerte von den durch Sachverständige ermittelten Werten teilweise stark abweichen, stellt sich Frage, ob eine Wertermittlung durch einen Sachverständigen, die der Pflichtteilsberechtigte selbst verlangt hat, bindend ist. Nach der Rechtsprechung ist dies nicht der Fall. Auch nach Vorlage eines Sachverständigengutachtens über den Wert eines Nachlassgegenstandes kann der Pflichtteilsberechtigte bezüglich dieses Nachlassgegenstandes einen anderen Wert zugrundlegen. Dies gilt auch dann, wenn das Wertgutachten gerade auf Verlangen des Pflichtteilsberechtigten erstellt und vorgelegt wurde. Wie bereits ausgeführt, dient der Wertermittlungsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB dazu, dem Pflichtteilsberechtigten eine bessere Grundlage zur Einschätzung seines Anspruchs zu geben. Behauptet der Pflichtteilsberechtigte dann im Prozess einen höheren Wert des betreffenden Nachlassgegenstandes als vom Sachverständigen ermittelt, so trägt der Pflichtteilsberechtigte insofern die Beweislast und das Prozessrisiko. Andererseits kann auch der Erbe im Streit über die Höhe des Pflichtteilsanspruch einen niedrigeren Wert eines Nachlassgegenstandes behaupten, als zuvor vom Sachverständigen festgestellt. In der Praxis ist allerdings ganz überwiegend zu beobachten, dass sich sowohl der Pflichtteilsberechtigte als auch der Erbe am Sachverständigengutachten orientieren und nur in seltenen Fällen hiervon abweichende Werte behauptet werden.

Welcher Wert ist maßgeblich, wenn die Immobilie (oder ein sonstiger Nachlassgegenstand) nach Erstellung eines Wertgutachtens veräußert wird?

Wurde bezüglich einer Immobilie, die zum Nachlass gehört, ein Wertgutachten erstellt und wurde die Immobilie danach veräußert, stellt sich die Frage, ob der Verkaufswert oder der Wert gemäß Gutachten zur Berechnung der Höhe des Pflichtteilsanspruchs heranzuziehen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll es – außer in Ausnahmefällen – auf den tatsächlichen Verkaufswert ankommen, wenn die Immobilie bald nach dem Erbfall veräußert wurde. Der Verkaufspreis ist dann also grundsätzlich vorrangig. Wird die Immobilie an Dritte veräußert, so darf man grundsätzlich auch annehmen, dass sich der Erbe als Veräußerer um einen möglichst hohen Verkaufspreis bemüht hat und der Verkaufspreis dem so genannten gemeinen Wert entspricht. In manchen Fällen kann es jedoch Anhaltspunkte dafür geben, dass der Verkaufspreis nicht dem gemeinen Wert entspricht, so zum Beispiel, wenn die Immobilie an einen nahen Verwandten oder Lebenspartner des Erben veräußert wurde oder sonstige Umstände vorliegen, die daran zweifeln lassen, dass der Preis Ergebnis einer sonst unter fremden Dritten üblichen Verhandlung ist. Auch der tatsächliche Verkaufspreis ist für den Pflichtteilsberechtigten aber nicht bindend. Der Pflichtteilsberechtigte kann zur Berechnung der Höhe seines Pflichtteils auch einen anderen Wert der Immobilie (behaupten. Der Pflichtteilsberechtigte trägt dann allerdings auch die Beweislast für die Behauptung, die Immobilie hätte einen höheren gemeinen Wert als der tatsächliche Verkaufspreis. Ein solcher Beweis kann auch durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens im Prozess geführt werden.

Kann der Pflichtteilsberechtigte auch dann eine Wertermittlung durch einen Sachverständigen verlangen, wenn die Nachlassimmobilie schon vorher veräußert wurde?

In dem Fall, dass eine zum Nachlass gehörende Immobilie bald nach dem Erbfall veräußert wurde, stellt die Rechtsprechung im Rahmen der Pflichtteilsberechnung üblicherweise auf den tatsächlichen Verkaufspreis ab. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Pflichtteilsberechtigte deshalb keinen Anspruch auf Vorlage eines Sachverständigengutachtens hätte. Vielmehr kann der Pflichtteilsberechtigte auch dann grundsätzlich verlangen, dass der Wert der Immobilie zum Zeitpunkt des Erbfalls durch einen Sachverständigen ermittelt wird. Durch ein Wertgutachten eines Sachverständigen wird der Pflichtteilsberechtigte nämlich in die Lage versetzt, abzuschätzen, ob der Verkaufspreis tatsächlich dem gemeinen Wert entspricht. Der Pflichtteilsberechtigte kann schließlich auch einen anderen Wert als den Verkaufspreis behaupten und seiner Berechnung zu Grunde legen. Wenn der Pflichtteilsberechtigte im Verkaufsfall keinen Anspruch gegen den Erben auf Wertermittlung hätte, so würde der Pflichtteilsberechtigte im Verfahren das Risiko tragen, wenn er ohne entsprechende Sachkenntnis einen zu hohen Wert ansetzt (vgl. BGH, Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20). Dennoch können sich bei der Durchsetzung des Anspruchs auf Wertermittlung praktische Probleme ergeben, wenn die Immobilie bereits veräußert wurde und im Eigentum eines Dritten ist. Der zwar rechtlich verpflichtete Erbe kann nämlich eine Besichtigung der Immobilie durch einen Sachverständigen nicht erzwingen, wenn die neuen Eigentümer einer Besichtigung durch einen Sachverständigen widersprechen. Zwar kann der Sachverständige dann ggf. auf der Basis des äußeren Erscheinungsbildes und der Papierlage eine Bewertung vornehmen. Die Aussagekraft ist dann naturgemäß aber geringer und es besteht die Gefahr, dass der Zweck des Anspruchs verfehlt wird, nämlich dem Pflichtteilsberechtigten eine bessere Entscheidungsgrundlage für die Verfolgung seines Anspruchs zu geben.

Hat der Pflichtteilsberechtigte einen Anspruch auf einen „öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen“?

Insbesondere wenn es um die Ermittlung eines Wertes einer zum Nachlass gehörenden Immobilie geht, besteht häufig die Sorge, dass der Erbe Einfluss auf den Gutachter nehmen könnte oder der Gutachter aus anderen Gründen nicht die gebotene Sorgfalt bei der Ermittlung des Wertes walten lässt. Vielfach verlangt der Pflichtteilsberechtigte vom Erben die Erstellung eines Wertgutachtens durch einen „öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen“. Ein solcher Anspruch besteht jedoch nicht. Die Qualifikation des Sachverständigen ist in § 2314 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BGB nicht geregelt. Maßgebend ist alleine, dass der Wert des Nachlassgegenstandes durch einen unparteiischen Sachverständigen ermittelt wird, unabhängig davon, ob er öffentlich bestellt und vereidigt ist oder nicht. Dass der Pflichtteilsberechtige keinen Anspruch auf ein Gutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen hat, ist vom Bundesgerichtshof klar entschieden worden (BGH, Urteil vom 29.09.2021 – IV ZR 328/20).

Hat auch ein Pflichtteilsberechtigter, der das Erbe ausgeschlagen hat, einen Anspruch auf Wertermittlung?

Pflichtteilsberechtigt ist nicht nur derjenige, der vom Erblasser enterbt wurde. Auch derjenige, der zwar zum Erben bestimmt wurde, aber durch die Einsetzung eines Nacherben, eines Testamentsvollstreckers, durch eine Teilungsanordnung oder Auflage oder Vermächtnis beschwert ist, kann, wenn er das Erbe ausschlägt, den Pflichtteil fordern. Insofern stellt sich die Frage, ob auch derjenige, der erst durch eine Ausschlagung der Erbschaft einen Anspruch auf den Pflichtteil erlangt hat, ebenso wie derjenige, der von vorneherein durch den Erblasser enterbt wurde, einen Anspruch auf Auskunft und Wertermittlung hat. Jedenfalls für den Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Auskunft und Vorlage eines Nachlassverzeichnisses hat der Bundesgerichtshof dies eindeutig entschieden (BGH Urt. Vom 30.11.2022 – IV ZR 60/22). Im Leitsatz zu der Entscheidung heißt es: „Einem Pflichtteilsberechtigten steht auch nach Ausschlagung seines Erbteils gemäß § 2306 Abs. 1 BGB ein Auskunftsanspruch gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zu.“ Dass der BGH in seiner Entscheidung den gesamten § 2314 Abs. 1 BGB nennt, also nicht nur den Anspruch auf Auskunft und Vorlage eines Nachlassverzeichnisses gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 1 BGB, spricht dafür, dass sich die Entscheidung auch auf den Wertermittlungsanspruch nach § 2314 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BGB bezieht.

Wann verjährt der Wertermittlungsanspruch?

Der Pflichtteilsanspruch verjährt gem. § 195 BGB in drei Jahren. Die Frist beginnt mit dem Schluss des Kalenderjahres, in welchem der Pflichtteilsanspruch entstanden ist und der Pflichtteilsberechtigte von den anspruchsbegründenden Umständen und von der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen (§ 199 Abs. 1 BGB).

Für die Ansprüche auf Auskunftserteilung und Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 BGB gilt ebenfalls die dreijährige Verjährung.

Die verschiedenen Ansprüche, also der Anspruch auf Zahlung des Pflichtteils, der Anspruch auf Auskunftserteilung, der Anspruch auf Vorlage eines (notariellen) Nachlassverzeichnisses und der Anspruch auf Wertermittlung sind grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Es handelt sich um unterschiedliche Ansprüche, die einzeln oder gemeinsam oder in Stufen geltend gemacht werden können. Zu Problemen kann diese Unterscheidung insbesondere dann führen, wenn die Verjährung der Ansprüche gehemmt werden soll, z.B. durch eine Klageerhebung oder wenn die Parteien eine Vereinbarung über einen Verzicht auf die Einrede der Verjährung treffen. Eine Klage auf Auskunft hemmt zum Beispiel nicht die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung. Anderseits bilden Auskunft nach § 2314 Abs. 1 S. 1 BGB und notarielles Verzeichnis nach § 2314 Abs. 1 S. 3 BGB nach der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur einen einheitlichen Anspruch unterschiedlicher Stärkegrade, mit der Folge, dass die Auskunftsklage die Verjährung auch hinsichtlich des Anspruchs auf Erstellung eines notariellen Verzeichnisses unterbricht. Nach einer Entscheidung des OLG München soll dies jedoch nicht für den Anspruch auf Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BGB gelten. Dieser stelle einen selbständigen Anspruch neben dem Auskunftsanspruch dar (OLG München, Urteil vom 08.03.2017 - 20 U 3806/16). Bedenken gegen die Auffassung des OLG München bestehen schon deshalb, weil vom Pflichtteilsberechtigten erst dann verlangt werden kann, den Anspruch auf Wertermittlung zu verfolgen, wenn ihm zuvor die Auskunft erteilt wurde, dass der betreffende Gegenstand überhaupt zum Nachlass gehört bzw. der Gegenstand im Nachlassverzeichnis aufgeführt ist. Zudem handelt sich bei allen Ansprüchen gemäß § 2314 Abs. 1 BGB nach der Auffassung des BGH um unechte Hilfsansprüche, die es dem Pflichtteilsberechtigen ermöglichen sollen, sich die notwendigen Kenntnisse zur Bemessung des Pflichtteilsanspruchs zu verschaffen (BGH, Urteil vom 30.11.2022 – IV ZR 60/22). Trotz dieser Bedenken gegen die Entscheidung des OLG München, sollte bei Klageerhebung oder einer Vereinbarung über den Verzicht auf die Verjährungseinrede daran gedacht werden, die Wertermittlungsansprüche mit einzubeziehen.

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